Wir sind dann wohl die Angehörigen
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BEWERTUNG |
05.09.2023 von Dan DeMento
Im Jahr 1996 erschütterte die Entführung des Hamburger Philologen Jan Philipp Reemtsma die Bundesrepublik, 2018 verarbeitete dessen Sohn Johann Scheerer seine damaligen Erfahrungen in einem Roman. Weitere vier Jahre später machte Regisseur Hans-Christian Schmid aus Wir sind dann wohl die Angehörigen einen Film - und den haben wir uns für euch angesehen!
Inhalt:
Am Abend des 25. März 1996 geht der Philologe Jan Philipp Reemtsma (Philipp Hauß) am Abend noch einmal kurz ins Nachbarhaus, um ein wenig zu arbeiten. Als er Stunden später noch immer nicht zurück ist, sucht seine Frau Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) nach ihm, findet stattdessen aber eine Handgranate - und einen Erpresserbrief. Für 20 Millionen D-Mark soll Reemtsma wieder freigelassen werden. Da jetzt jede Sekunde zählt, arbeitet die Hamburger Polizei auf Hochtouren. Das Haus der Scheerers wird zur Einsatzzentrale und der Familienanwalt Schwenn (Justus von Dohnányi) zum Verhandlungsführer. Und mittendrin steht der 13jährige Johann (Claude Heinrich), der plötzlich nicht nur Angst um seinen Vater haben muss, sondern auch sämtlichen Halt im Alltag verliert - denn die Öffentlichkeit darf von der Entführung nichts erfahren. Und dann scheitert die erste Lösegeldübergabe...
Regissuer Hans-Christian Schmid darf man guten Gewissens ein gewisses Händchen in Sachen Casting attestieren. So war sein Film Nach Fünf im Urwald 1995 der Karrierestart für Franka Potente, 23 – Nichts ist so wie es scheint drei Jahre später der von August Diehl und Crazy im Jahr 2000 der von Robert Stadlober und Tom Schilling. Drehbuchautor bei all diesen Filmen war Michael Gutmann, mit dem er auch bei Wir sind dann wohl die Angehörigen wieder zusammenarbeitete. Die Zeichen standen also sehr gut, dass den beiden eine weitere gelungene Romanverfilmung gelingen könnte.
Und das sei einmal vorausgeschickt: Es ist ihnen gelungen. Selbst wenn man von der Reemtsma-Entführung noch nie etwas gehört oder das Buch gelesen hat, ist Wir sind dann wohl die Angehörigen ein stilles, aber nichtsdestotrotz sehr spannendes und eindringliches Drama. Man ist als Zuschauer stets Teil der bedrückenden Stimmung im Haus, was der nüchternen, fast dokumentarischen Inszenierung geschuldet ist. In den spannenden Momenten, primär bei den Geldübergaben, steigert sich das Tempo extrem, nur um danach wieder in ruhige Lethargie zurückzufallen - genau wie alle Beteiligten, denen außer erneutem Warten nicht viel zu tun bleibt.
Dass das über fast zwei Stunden Laufzeit so gut funktioniert, ist vor allem dem großartigen Spiel von Hauptdarstellerin Adina Vetter zu verdanken, die den Film problemlos auch über die gelegentlich auftretenden Längen trägt und von Anfang bis Ende überzeugend und nachvollziehbar agiert. Ähnliches gilt auch für Nebendarsteller wie Yorck Dippe, der einen der Angehörigenbetreuer der Polizei verkörpert und vor allem Hans Löw als Freund der Familie und Hauptansprechpartner von Johann.
Damit kommen wir aber auch schon zu den Kritikpunkten des Films, denn davon gibt es eigentlich nur zwei, die aber leider - je nach persönlichem Geschmack - recht gravierend ausfallen. Das ist zum einen Justus von Dohnányi als Familienanwalt Johann Schwenn, dem man aber fachlich absolut nichts vorwerfen kann. Dohnányi hat schon in Das Experiment, Männerherzen oder zuletzt in Eingeschlossene Gesellschaft gezeigt, dass er sein Fach beherrscht, und das tut er auch in Wir sind dann wohl die Angehörigen. Leider spielt er sich damit mehr in den Vordergrund, als es seine Rolle eigentlich tun sollte. Zwar ist er Verhandlungsführer und enger Freund der Familie, die eigentliche Hauptfigur, nämlich der Sohn Johann verblasst hinter ihm aber leider extrem. Ob das beim Dreh, im Schnitt oder schon in der Drehbuchphase passiert ist, kann man nicht sagen, doch als Zuschauer hat man regelmäßig das Gefühl, dass man eigentlich gerade lieber jemand anderem zuhören möchte. Eventuell mussten durch Dohnányis durchgehend überzeugendes Spiel andere Schwächen aufgefunden werden.
Denn eine davon ist, so ungern man das zugeben möchte, Johann-Darsteller Claude Heinrich. Auch dieser macht seine Sache zwar die meiste Zeit über sehr überzeugend, nur spielt er leider von Anfang bis Ende gleich. Egal ob als Teil seiner Band "Am kahlen Aste" (die, als kleiner Funfact, nach Umbenennung in Score! im Jahr 2000 mit "Du kannst mich mal" ein respektables One-Hit-Wonder wurden) zu Beginn des Films, bei emotionalen Ausbrüchen und bei der - Achtung Spoiler - glücklichen Wiedervereinigung zum Schluss, Mimik, Sprache und Haltung sind immer identisch. Das nimmt dem Zuschauer ein bisschen die Identifikationsfigur und macht Wir sind dann wohl die Angehörigen statt dem emotionalen Drama, das es sein könnte, doch eher zu einem sehr emotional inszenierten Krimi.
Doch auch mit diesen Abstrichen ist Wir sind dann wohl die Angehörigen ein sehr gelungener Film, der sowohl diejenigen, die den damaligen Fall noch live erlebt haben, als auch ganz themenfremde Zuschauer gut unterhalten wird.
Details:
Bild und Ton sind auf höchstem Niveau, frei von Störungen oder Fehlern und der Sound kommt trotz des sehr ruhigen Settings mit genug Druck und schön abgemischt aus der Anlage. An Bonusmaterial gibt es einige nicht verwendete Szenen und viele Trailer aus dem Pandora-Programm.
Cover & Bilder © www.sofahelden.de Das Fazit von: Dan DeMento
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